Horst W. Opaschewski formuliert 10 Forderungen an die Zukunft
Zehn Folgerungen und Forderungen an die Zukunft:
1. Aus der Geschichte Lehren ziehen
Das ist nicht so einfach. Denn jedes Gesellschaftssystem unterliegt einem natürlichen Alterungsprozess. Historisch gesehen ist jeder Untergang der einen zugleich ein Übergang für die anderen. Die Verfallsfaktoren z.B. für den Untergang Roms lesen sich heute wie eine aktuelle Bestandsaufnahme: Vergnügungssucht, ausufernder Egoismus, Ehe- und Kinderlosigkeit, hohe Scheidungsraten, Bevölkerungsschwund. Letzterer ließ sich selbst durch sogenannte Sklavenzufuhr nicht aufhalten. Rom war sozial, politisch und kulturell erstarrt und reif für den Untergang. Viele Wege führen nach Rom. Wir sollten in Zukunft andere Wege gehen.
2. In der Schule für das ganze Leben lernen
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Wenigstens diese alte Weisheit der Römer sollte wieder wörtlich und ernst genommen werden. Aus der Lernschule muss wieder eine Lebensschule werden. Lernfragen sind wichtig, Lebensfragen aber genauso. Viele Schüler haben nach Verlassen der Schule den Kopf voll mit Formeln und Vokabeln, stolpern aber ansonsten ziemlich orientierungslos durch das wirkliche Leben.
3. Die materialisierte Lebenshaltung überdenken
Erkenne, wann du satt bist. Wir müssen wieder spüren lernen, wann wir hungrig sind – materiell und mental. Tragen immer mehr Konsumangebote wirklich zu unserem Wohlbefinden bei oder lassen sie uns aus dem inneren Gleichgewicht geraten? Auch die Konsumgesellschaft muss ihren Anspruch auf Lebensqualität einlösen, wenn sie eine Zukunft haben will.
4. Neue familienfreundliche Leitbilder schaffen
Viele Konsumangebote fördern das Auseinanderdriften der Familienmitglieder. Tu was für dich selbst. Erlebe dein Leben. Verwirkliche deine Träume – egal, ob Partnerschaft oder Familie darunter leiden. Wie nie zuvor in der menschlichen Geschichte müssen wir in Zukunft mit einer beispiellosen Zunahme der Langlebigkeit rechnen. Wer nicht frühzeitig für das natürliche Solidaritätspotential der Familie sorgt, kann im hohen Alter auch nicht auf Lebensqualität hoffen.
5. Generationsübergreifende Kontakte schaffen
Der Generationenvertrag steht vor seiner Auflösung. Vor dem Hintergrund schrumpfender familialer Netze nehmen auch die Verwandtschaftshilfen ab. Informelle soziale Netzwerke müssen systematisch gefördert und die natürlichen Hilfspotentiale aktiviert werden, damit auch Freunde, Bekannte und Vereinsmitglieder als freiwillige Helfer gewonnen werden können. Andernfalls bleibt man allein bzw. alleingelassen.
6. Arbeit neu definieren
Diesseits und jenseits des Erwerbs warten neue Arbeitswelten auf uns: Familienarbeit, Gesellschaftsarbeit, Bürgerarbeit. Viele dieser Tätigkeitsfelder kommen ohne Bezahlung, aber keines ohne soziale Anerkennung aus. Über einen arbeitnehmerähnlichen Status muss nachgedacht werden. Unbezahlte Arbeiten können das Erwerbssystem durchaus sinnstiftend ergänzen, natürlich nicht ersetzen.
7. Leistung als Lebenssinn anerkennen
Der menschliche Leistungswille bleibt ungebrochen. Alle wollen im Leben etwas leisten und alle können auch etwas leisten. Allerdings muss die Leistungsdiskussion, die sich bisher fast nur im ökonomischen Fahrwasser bewegte, um soziale Dimensionen erweitert werden.
8. Das freiwillige Ehrenamt gesellschaftlich aufwerten
Mit dem Trend zur Individualisierung gehen immer mehr Orientierungsmöglichkeiten verloren und werden neue Gemeinschaftserlebnisse immer wichtiger. Wir sollten also in Zukunft geradezu eine neue Profession mit Ernstcharakter schaffen, eine Art Zweitkarriere jenseits des Gelderwerbs – ein soziales Volontariat, das auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basiert.
9. Für verbindliche Wertorientierungen Sorge tragen
Erich Fromm hat einmal gesagt: Das Wohl des Menschen ist das einzige Kriterium für ethische Werte (Fromm 1978, S. 26). Dies muss der Minimalkonsens für uns alle sein. Insbesondere Multiplikatoren und gesellschaftliche Entscheidungsträger haben eine Pflicht, in der Suche nach verbindlichen Wertorientierungen, in denen das Wohl des Menschen und das Gemeinwohl der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, voranzugehen. Sie müssen nicht gleich alle Lösungen selbst finden, sollten eher Fragen stellen und andere zu Antworten ermutigen.
10. Die Politik für Zukunftsfragen sensibilisieren
Die Politik muss die Bevölkerung davon überzeugen, dass sie die Richtung der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung kennt und entsprechend Einfluss darauf nimmt. In der Politik herrscht noch immer weitgehend Orientierungsnotstand, weil kaum jemand eine Richtung für die Zukunft vorgibt, so dass die Bürger wissen und erfahren, was nun kommt, wo es hingeht oder langgehen sollte. Gemacht wird eher, was gerade machbar ist bzw. an-kommt.
Quelle: www.zeit.de am 31.12.1999